REDEN IST SILBE

20 Jahre Tintenherz

Heute vor 20 Jahren, am 23. September 2003, erschien Cornelia Funkes Tintenherz, der erste Band der Tintenwelt-Trilogie. Die Geschichten handeln von Menschen, die in der Lage sind, Figuren aus Büchern heraus- und sich selbst hineinzulesen.

 

Auf diesem Niveau bleibt das Kunststück Fiktion, aber ein paar Nummern kleiner haben wir alle eine ganz ähnliche Gabe: Jeder von uns ist in der Lage, vergessene Wortbedeutungen zum Leben zu erwecken, einfach indem wir sie hinauslesen in die wirkliche Welt.

 

Dass es funktionieren kann, bewies schon vor zweihundert Jahren der Schriftsteller, Verleger und Sprachforscher Joachim Heinrich Campe (1746–1818). In dem Bestreben, die deutsche Sprache von fremdsprachigen Einflüssen zu reinigen, schlug er anstelle damals üblicher griechisch-lateinisch-französischer Begriffe tausende deutscher Ersatzwörter vor, zum Beispiel Ergebnis anstelle von Resultat, fortschrittlich anstelle von progressiv, Voraussage anstelle von Prophezeiung.

 

Eines der vielen Fremdwörter, die Campe nicht behagten, war das französische „Rendezvous“. „Rendezvous“ heißt wörtlich „trefft euch“. Nach dem Vorbild anderer imperativischer Satznamen (Tischleindeckdich, Vergissmeinnicht) machte Campe aus „Rendezvous“ in einem mutigen Handstreich: … Stelldichein.

 

Das ungewöhnliche Wort wurde zunächst verspottet, aber Campe ließ nicht locker, warb für das Wort, benutzte es so oft wie möglich. Sekundiert wurde er von Jean Paul (1763–1825), heute der ungelesenste der deutschen Klassiker, damals ein populärer Bestseller-Autor. Der ausgesprochen neologismen-affine Jean Paul (kein Autor hat mehr Einträge im Grimmschen Wörterbuch) übernahm viele von Campes Wörtern in seine eigenen Bücher und tat mehr als jeder andere, um die Lücke zwischen Campes akademischen Wortlisten und der gedruckten literarischen Wirklichkeit zu schließen. So kam es, dass dank Jean Pauls Engagement das Wort „Stelldichein“ etwa dreißig Jahre nach seiner Kreation tatsächlich fester Bestandteil der Literatur- und Alltagssprache geworden war. (Dass es mittlerweile zugunsten von „Date“ wieder aus unserem Wortschatz verdrängt wurde, steht auf einem anderen Blatt.)

 

Machen wir es wie Cornelia Funke, Joachim Heinrich Campe und Jean Paul! Haben wir uns in ein schönes Wort verliebt, das es verdient hätte, in unser Alltagsdeutsch aufgenommen zu werden, dann benutzen wir es so häufig wie möglich, in der Familie, gegenüber Freunden, Kollegen, Nachbarn!

 

Befreien wir die vergessenen Doppelwörter aus ihrer Schattenexistenz! Erwecken wir sie mit einem Dornröschenkuss zum Leben!

 

Wenn ein Wort ein anderes ergibt

Anmache

Sammelbegriff für Essig und Öl

 

Autokorrektur

Auto-Reparatur, -Verschönerung, -Tuning

 

Bargeld

Kosten für die Druckluft an der Tankstelle

 

Dienstgrad

Optimale Arbeitstemperatur in Büros

 

einschlafen

Ein Bett durch richtige Behandlung allmählich zu voller Leistungsfähigkeit bringen (ähnlich wie ‚ein Auto einfahren‘)

 

Fast’nmonat

Februar (wegen seiner Kürze)

 

Flugcharme

Schlüsselqualifikation von Stewardessen

  

Grädchenfrage

Die alles entscheidende Frage, ob sich die globale Erwärmung auf zwei oder auf drei Grad begrenzen lässt

 

Lausitz

Vom Vor-Sitzenden noch warme Klobrille

 

Lebensabschnittsgefährt

Geliebtes Auto

 

Milchstraße

Supermarktgang, in dem die Milch und Milchprodukte stehen

 

mitsamt Handschuhen anfassen

Corona-Maßnahme gegen Hautkontakt

 

Optimis-muss

Zweckoptimismus („Hilft ja nix …“; „Muss ja irgendwie gehen …“)

 

paarschippen

Gemeinsam Schnee schippen

 

Po-Ebene

Sitzfläche eines Stuhls

 

Polymeer

Ozean, in dem mehr Kunststoffe als Fische schwimmen

 

Raubzug

Unerlaubtes Saugen an einer fremden Zigarette

 

Räuma

Leiden von Ordnungsfanatikern

 

Satt-Anlage

Lieblose Kantine/Mensa

 

Schallmauer

Lärmschutzwand entlang der Autobahn

 

Stauraum

Autobahn

 

Tanklaster, das

Schlechte Angewohnheit von Vielfahrern, häufig zu tanken

 

Terrapeut

Psychotherapeut für Menschen, die an der Umweltzerstörung und am Klimawandel leiden

 

Tu’ du-Liste

To-Do-Liste für andere

 

Weihnachtsplätzchen

Gemütliche Ecke am Ofen, in der man es sich mit Gebäck und Glühwein gemütlich macht

 

wilde Ehe

Tabulose, leidenschaftliche Beziehung

 

Zinssoldat

Wackerer Anleger auf der Jagd nach attraktiven Zinsen

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